Ein Kommentar von Thomas Schmid…
Ein einzelner Täter ermordet in Deutschland binnen einer Stunde neun Menschen aus Familien nicht-deutscher Herkunft – genauso viele Menschen nicht-deutscher Herkunft wie der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) in fünfeinhalb Jahren. Es ist offensichtlich, dass diese Morde Menschen töten sollten, die nur eines miteinander verbindet: dass ihre Familien außerdeutsche Wurzeln haben. Deswegen ist es gut, dass nach der Tat von Hanau schnell vielerorts in Deutschland Menschen auf die Straße gegangen sind, um ihrem Entsetzen öffentlich Ausdruck zu geben. Dass der Mörder womöglich ein psychisch schwerkranker Mann war, nimmt diesen Protesten keine Spur ihrer Berechtigung und Notwendigkeit.
Es war für die Angehörigen der Opfer wichtig zu erfahren, dass es viele gibt, die mit ihnen fühlen. Und es war auch wichtig, dass führende Politiker ihr Mitgefühl bekundet haben. Das war 1993 nach den Morden an Ausländern in Mölln und Solingen noch anders gewesen. Damals hatten die Familien der Opfer weitgehend alleine dagestanden. Bundeskanzler Kohl hatte das Ansinnen, an die Mord-Orte zu fahren unwirsch abgelehnt. Das wäre heute nicht mehr möglich. Gut, dass große Teile der Bevölkerung und viele Politiker, Horst Seehofer eingeschlossen, Menschen, die lange in Deutschland leben, deren Familien ursprünglich aber nicht aus Deutschland stammen, nicht mehr Mitbürger, sondern Bürger nennen. Sie gehören, wie alle anderen auch, dazu. Wer gegen sie ist, ist gegen uns. Diese Einsicht ist ein Fortschritt.
Aber nur ein halber. Denn wieder gab und gibt es Zuschreibungen, die den Opfern nicht gerecht werden. Unter den neun in Hanau Ermordeten sind vier Kurden, ein Bulgare, eine Roma, ein Rumäne, ein Bosnier-Herzegowiner und ein Afghane. In der öffentlichen Wahrnehmung wurden sie bald über einen Kamm geschoren, auch von Politikern, die Hanau aufsuchten oder sich aus der Berliner Ferne meldeten. So traf sich Innenminister Horst Seehofer in Hanau mit Vertretern der Türkischen Gemeinde, nicht aber mit der Organisation der Kurden in Hanau. Das erweckte den Eindruck, der Anschlag habe allein den in Deutschland lebenden ethnischen Türken gegolten. Was hatte Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland auf der Bühne zu suchen, von der aus Bundespräsident Steinmeier auf der Trauerkundgebung in Hanau sprach? Und warum kondolierte Angela Merkel dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan? Ganz so, als sei die Tat ein Anschlag auf die Türkei gewesen. Für mindestens vier der Toten ist Erdogan mit Sicherheit die falsche Kondolenzadresse: Klojan Wlokov war Bulgare, Said Nesev Hashemi Afghane, Bili Viorel Paun Rumäne und Hamza Kurtovic stammte aus Bosnien-Herzegowina. Vor allem aber ist höchst unwahrscheinlich, dass sich die vier in Hanau ermordeten Kurden ausgerechnet von Erdogan repräsentiert gesehen hätten, der die Kurden seit geraumer Zeit rücksichtslos verfolgen lässt.
Diese ungenaue, die Besonderheiten der Ermordeten übergehende Wahrnehmung steht für eine ungute Tradition in der deutschen Einwanderungsgesellschaft: für die Tradition, in Einwanderern ein Kollektiv, eine Einheit zu sehen. Ein solcher Diskurs ist längst nicht mehr auf der Höhe der Realität, und wird der Vielfalt der Einwanderung nicht gerecht. Wie auch nicht der Tatsache, dass viele (sicher nicht alle) Einwanderer und deren Kinder nach Kräften bemüht sind, sich von ihrer Herkunftsidentität möglichst zu entfernen. Der 22 Jahre alte Kurde Ferhat Ünvar, der in Hanau ermordet wurde, war in Deutschland geboren, hat die Türkei nie besucht und wurde Mitglied im Hanauer kurdischen Gesellschaftszentrum. Ihn über seine familiären Wurzeln in der Türkei zu definieren, tut ihm Gewalt an. Wie es umgekehrt genauso anmaßend war, dass nach den Hanauer Morden auf einer Protest-Demonstration eine riesige türkische Fahne durch die Straßen der Stadt getragen wurde. Das ist ebenso eine Instrumentalisierung der Toten für den türkischen Nationalismus wie der Aufruf türkischer Konsulate in Deutschland an Türkisch-Stämmige mit türkischem oder deutschem Pass, an der Demonstration in Hanau teilzunehmen. Auf der einen Seite werden die Ermordeten durch türkische Nationalisten funktionalisiert; auf der anderen Seite raubt der kollektivierende Blick, den deutsche Politiker und Teile der Öffentlichkeit auf die Toten werfen, diesen ihre politische und kulturelle Eigenart. Zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Wie tief und geradezu lagerübergreifend diese unseligen Zuschreibungen verankert sind, zeigt ein Kommentar von Can Dündar über die Hanauer Morde. Dündar war in der Türkei Chefredakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“. Er kämpfte gegen die autokratische Politik von Staatspräsident Erdogan und für eine Republik der Menschenrechte und der Vielfalt. In der Türkei zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt, lebt er seit 2016 in Deutschland. Wie wenige andere verkörpert er eine laizistische, demokratische und tolerante Türkei. Sein Kommentar zu Hanau trägt den Titel „Vereint als Fremde“. Darin beschreibt er, wie in Berlin Erdogan-Gegner und Erdogan-Anhänger sprachlos bis aggressiv nebeneinander her leben. Was sie trennt, sei Erdogan.
Dündar weiter: „Was sie aber vereint, sind die Angriffe von Rassisten.“ Der Attentäter von Hanau hat, dieser Sicht folgend, eine vorpolitische und vor allem national definierte Opfergemeinschaft wiederhergestellt. Das bisher Trennende scheint wegzufallen. Dündar: „Die Morde von Hanau haben uns mit Kugeln gelehrt, dass wir eine über unsere Identitäten als Alte/Neue, Türken/Kurden, Erdogan-Anhänger/-gegner hinausgehende Identität besitzen. Sie lautet, ‚Fremde’ zu sein.“ Das ist, gerade aus der Feder eines aufgeklärten Demokraten, eine niederschmetternde Auskunft. Denn es heißt ja nichts Anderes als dies: Einem einzigen Attentäter kann es mit einer Mordtat gelingen, die zentrifugale Vielfalt der Einwanderungsgesellschaft zu stoppen und die elende uralte Ordnung wieder zu erneuern. Die da heißt: Hier wir, dort die.
Es spricht ziemlich viel dafür, dass Can Dündar mit dieser etwas dramatischen Auskunft keineswegs Recht hat, zumindest nicht nur. Dass heute aber konservative türkische Organisationen den Mord an Kurden in Deutschland ungehindert zum Anlass nehmen können, öffentlich dem türkischen Nationalismus zu huldigen; dass deutschen Politikern die Sensibilität abgeht, den Opfern individuell gerecht zu werden; und dass aufgeklärte türkische Intellektuelle nach Hanau den Eindruck haben, Deutschland mache die in Deutschland lebenden Nicht-Deutschen zu Fremden: All das zeigt, dass es nicht besonders gut steht um das Selbstverständnis der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Im Zweifel obsiegen, hier wie dort, immer noch die alten Reflexe.
Der Hanauer Attentäter hat sich seine Opfer gezielt und mit Bedacht ausgesucht. Das Foto einer Überwachungskamera in einem Wettbüro zeigt ihn selbstsicher, er scheint sich überlegen zu fühlen. Anders der Täter von Volkmarsen. Er folgte eher einem Muster von Anschlägen, wie es für Islamisten typisch ist: wahllos möglichst viele Menschen treffen, gleich welcher Herkunft.
https://schmid.welt.de/2020/02/26/wie-die-toten-von-hanau-funktionalisiert-werden/