Eine Million Unsichtbare…

Die kurdische Bevölkerung in Deutschland
von Dastan Jasim – Katapult

Die kurdische Gemeinde in Deutschland wird kaum beachtet. Während beispielsweise Schulunterricht in türkischer Sprache längst normal geworden ist, wird die kurdische Kultur nur zögerlich weitergegeben. Ein Grund dafür: Auch in Deutschland kann sich die kurdische Minderheit nicht sicher fühlen.

Als die Türkei im Januar 2018 in einer Militär­invasion das mehrheitlich kurdische Gebiet Afrin im Nordwesten Syriens einnahm, kam es in Deutschland zu zahlreichen Massendemonstrationen. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen Civaka Azad, das Zentrum für kurdische Öffentlichkeitsarbeit und die Autorin dieses Textes eine Onlinebefragung durchzuführen. Entgegen der vereinfachten medialen Darstellung dieser Proteste wollten wir die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie hier lebende Kurdinnen und Kurden die Außenpolitik Deutschlands empfinden und was diejenigen denken, die im Zuge solcher Proteste als gewaltbereite Krawallmacher und »Importeure von Konflikten« dämonisiert werden. Diese Menschen sind nämlich zu einem großen Teil mittlerweile deutsche Staatsbürgerinnen, die durchaus erwarten dürfen, dass die Bundesregierung auch ihre Interessen berücksichtigt. Rund 400 Kurdinnen und Kurden beantworteten unsere Fragen. Die Ergebnisse sind angesichts der sich nicht verbessernden Lage von Kurdinnen im Irak, im Iran, in Syrien und der Türkei einen erneuten Blick wert.

Unsere Umfrage wurde über verschiedenste kurdische Newsletter, Webseiten kurdischer Vereine, kurdische Onlineforen sowie über Social Media verbreitet. 80 Prozent der Befragten gaben an, wahlberechtigt zu sein, die Mehrheit wurde in Deutschland geboren. Viele identifizieren sich als Kurdinnen oder haben hybride Identitäten. Uns war es wichtig, zu erfassen, inwiefern sich die Befragten als Kurdinnen von der Politik berücksichtigt fühlen.

Deutsch und kurdisch aufgewachsen

Auf einer Skala von »gar nicht berücksichtigt« (1) bis »sehr berücksichtigt« (6) lag der Mittelwert der Antworten bei 2,1. Die Mehrheit der Befragten fühlt sich also speziell als Kurd*innen nicht von der Politik berücksichtigt. Wir haben uns auch den Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit mit der deutschen Außenpolitik und dem Interesse an eher innenpolitischen oder eher außenpolitischen Themen angeschaut. Dabei stellten wir fest: Die meisten Befragten gaben an, sich eher über außenpolitische Inhalte zu informieren und sind gleichzeitig unzufrieden mit der Außenpolitik der Bundesrepublik. Man kann also nicht behaupten, dass diejenigen, die gegen außenpolitische Umstände protestieren, sich nicht für die deutsche Außenpolitik interessierten. Es wird deutlich, dass die kurdische Sache für viele in Deutschland ein transnationales Thema ist, das nicht einfach in Innen- und Außenpolitik aufgeteilt werden kann.

Das zeigt sich beispielhaft auch in dem Abschnitt, in dem erfragt wurde, ob die Befragten ihre Nachrichten über Kurdistan eher aus deutschen oder nichtdeutschen Quellen beziehen. Die Frage wurde absichtlich so gestellt. Wir wollten herausfinden, was die Befragten angeben würden, wenn sie wirklich nur eine Quelle auswählen dürfen, obwohl die meisten sicher sowohl deutsche als auch nichtdeutsche Quellen nutzen. Die Verteilung ist hier fast 50/50, was zeigt, dass das Klischee der protestierenden, der deutschen Sprache nicht mächtigen und mental in der »Heimat« gebliebenen Personen nicht stimmt. Viele Kurdinnen und Kurden sind mehrsprachig aufgewachsen und leben auch in einer mehrsprachigen Realität, in der komplexe politische Diskurse wie der kurdische nicht einfach nur durch die Brille der »mangelnden Integration« oder der »importierten Konflikte« gesehen werden dürfen.

Kein eigener Nationalstaat

Für viele Minderheiten innerhalb der kurdischen Bevölkerung hat der Bezug zur Heimat noch eine andere Komponente. Nicht immer ist es so, dass die politisch besonders Aktiven einfach nur politisch aktiv sind, weil sie noch viele Verwandte in der Heimatregion haben. Wegen der systematischen Vertreibung ihrer Vorfahren trifft das nämlich auf einige gar nicht zu, etwa für Êzîden oder Aleviten. 47,5 Prozent derjenigen, die angaben, keine Verwandten mehr im Herkunftsland zu haben, sind êzîdisch und 26,2 Prozent alevitisch. Trotzdem informieren sie sich über die Herkunftsregion und setzen sich für diese politisch ein.

Das kurdische Volk hat keinen eigenen Nationalstaat. Ihr Hauptsiedlungsgebiet erstreckt sich seit dem Vertrag von Lausanne 1923 über vier Staaten: den Irak, den Iran, Syrien und die Türkei. Ihre genaue Zahl ist unbekannt; Schätzungen zufolge leben in diesem Kerngebiet mindestens 30 Millionen Kurd*innen, der größte Teil davon in der Türkei. Dass man nicht weiß, wieviele es sind, hat auch politische Gründe: Selbst zu behaupten, dass diese Menschen indigener Teil der Region sind, war und ist bis heute ein Politikum. Dementsprechend ist selbst eine empirische Feststellung ihrer Existenz eine Frage politischer Interessen. Viele Kriege wurden gegen diese Menschen geführt, Kriege, die zu großen Fluchtbewegungen führten – auch nach Deutschland.

Insbesondere seit den 1950er-Jahren haben verschiedene kurdische Fluchtwellen ihren Weg in die Bundesrepublik gefunden. Hier angekommen, wurden Menschen aber höchstens nach ihrem Herkunftsland und nicht nach ihrer Ethnie registriert. Das hat eine tragische Ironie, wo es doch die Verleugnung und spezifische Verfolgung dieser Ethnie ist, die ihre Flucht oftmals überhaupt erst bedingt hat. Ein Beispiel dafür sind etwa diejenigen aus der Türkei, von denen viele seit den Sechzigerjahren im Zuge des Gastarbeiterprogramms nach Deutschland gekommen sind. Auch sie sind in der Statistik Türken, obwohl die Migration als Gastarbeiterinnen für viele nur eine von mehreren Fluchtstationen war. Etliche waren schon lange davor im Zuge der Umsiedlungspolitik des türkischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk gezwungen worden, aus ihren Herkunftsgebieten im Südosten Anatoliens in den Westen des Landes zu ziehen.

Während der Industrialisierung der Türkei dienten sie als billige Arbeitskräfte, die sich außerdem an das Türkentum anzupassen hatten. Es sind häufig ihre Nachfahren, die dann nach Westdeutschland kamen. Doch auch dort war es unerwünscht, zu thematisieren, dass sie Kurdinnen sind oder Genozidüberlebende, so wie die des Dersim-­Genozids von 1938. Hinzu kommen viele weitere Tausende aus dem Iran und dem Irak, die ab Ende der 1970er bis in die Neunzigerjahre vor politischer Verfolgung und Vernichtung flohen, etwa den Giftgasangriffen Saddam Husseins 1988. Seit 2015 sind es vor allem die Kurd*innen aus Syrien, die vor Assads Verfolgung, vor dem IS und vor türkischen Luftangriffen nach Deutschland geflohen sind.

Diskriminierung auch in Deutschland

Heute schätzen verschiedene Quellen, dass mehrere Hunderttausend bis zu einer Million Kurdinnen in Deutschland leben. Das Leid, das ihre ethnische Verfolgung mit sich brachte, hört hierzulande nicht auf. Bereits in einem 1988 veröffentlichten Report von Jochen Blaschke und Birgit Ammann wird von dem erschreckenden türkischen Rassismus gegenüber kurdischen Kindern berichtet, die von ihren türkischen Mitschülerinnen als niedere Lebewesen betrachtet würden. Die protokollierten Aussagen der Kinder zeigen deutlich auf, was von vielen bis heute verleugnet wird: Über eine bloße Diskriminierung hinaus wurde und wird das Kurdische rassifiziert und mit bestimmten äußerlichen Merkmalen verbunden, die dann wiederum an eine soziale Minderwertigkeit gekoppelt sind. Auch Karikaturen in türkischen Tageszeitungen stellen Kurd*innen häufig als dunkelhäutig, primitiv und minderwertig dar.

Während gerade die türkeistämmigen Kurdinnen früher häufig versuchten, diesem Rassismus zu entkommen, indem sie ihren Kindern ihre kurdische Herkunft nicht mehr weitergaben, sehen wir seit den 1990er-Jahren eine Abkehr davon: Immer mehr von ihnen stehen zu ihrer Herkunft und lernen die kurdische Sprache. Gruppen wie der Berliner Verein Yekmal setzen sich sogar für kurdischsprachigen Unterricht an deutschen Schulen ein – etwas, das für türkischsprachige Menschen seit Jahrzehnten Normalität ist. Viele engagieren sich zudem politisch angesichts des sich verschlimmernden Autoritarismus in der Türkei. Ebenso fand der kurdische Widerstand gegen den IS auch in Deutschland statt. Der Historiker Hamit Bozarslan nennt diese Prozesse eine Paralleldiplomatie, innerhalb derer Kurdinnen aus der Diaspora versuchen, Aufmerksamkeit auf die fortwährende Unterdrückung in ihren Herkunftsländern zu lenken. Für sie ist dieser Aktivismus oftmals nicht nur eine außenpolitische Frage: Diskriminierung gibt es auch in Deutschland, etwa indem türkische staatliche oder rechtsextreme Strukturen, die sich nicht immer klar voneinander trennen lassen, in das migrantische Leben eingreifen und insbesondere politisch Engagierte zur Zielscheibe machen.

Die Guten und die Schlechten

Leider gehen die Ziele und Belange der kurdischen Bevölkerung im deutschen Diskurs oft verloren. Wenn sie protestieren, dann ist häufig von »Kurdenprotesten« die Rede, wobei nicht weiter veranschaulicht wird, wogegen oder wofür diese protestieren. Häufig wird auch zwischen »guten« und »schlechten« Kurdinnen unterschieden. Letzteren wird vorgeworfen, Konflikte zu importieren, die Angriffe durch türkische Rechtsradikale und den türkischen Staat hingegen bleiben oftmals unkommentiert. Die in diesem Narrativ »Guten« identifizieren sich ferner mit bestimmten vermeintlich »deutschen Werten«, während die »Schlechten« laut, militant und aufmüpfig sind. Aufmüpfig auch gegen eine deutsch-türkische Politik, die seit Jahrzehnten sowohl die türkische Politik gegen Kurdinnen in der Türkei ermöglicht, als auch deren Verleugnung und Kriminalisierung in Deutschland vorantreibt. Eine Zweiteilung, die in der Wissenschaft, in der Presse und leider auch von bestimmten Teilen der kurdischen Community in der Hoffnung auf eine Entstigmatisierung reproduziert wird.

Wir halten also fest: Es gibt ziemlich viele Kurdinnen in Deutschland, viele davon sind politisch aktiv und finden den außenpolitischen Status quo in Deutschland problematisch. Sie gehen daher auf die Straße. Wirkliche Forschung darüber, was diese Bevölkerungsgruppe aber eigentlich ausmacht, was ihre politische Haltung und ihr sozioökonomischer Status sind, gibt es nicht. Viele deutsche Studien behaupten gern, repräsentativ zu sein. Für die kurdische Untersuchungsgruppe sind sie es jedoch oftmals nicht. Ein Beispiel ist die im Jahr 2018 erschienene Studie unter der Leitung von Achim Goerres, deren Hauptstichprobe Menschen mit Migrationshintergrund sind, von denen dann erst im zweiten Schritt auf Kurdinnen geschlossen wird. Durch ein solches Verfahren kommen dann Ergebnisse zustande wie jenes, dass unter den gerade mal 31 Kurdinnen der Studie 30 Prozent die CDU wählen würden. Oder es werden Arbeiten vorgestellt wie die von Demmrich und Aarkon aus dem Jahr 2020,  in der sie ankündigen, sie hätten die erste repräsentative Stichprobe von Kurdinnen in Deutschland designt. Als Leitfrage wird in dieser Studie jedoch untersucht, wie die Befragten sich »integrieren« oder mit deutscher Identität identifizieren. In Zeiten, in denen sich andere migrantische Gruppen desintegrieren dürfen, scheint das Leitbild zu herrschen: Wir forschen über euch, wenn ihr »gut« seid, wenn ihr die »Kurdenfrage« ruhen lasst, wenn ihr euch integriert.

Status: keiner

Was machen »schlechte«? Sie sympathisieren angeblich mit der PKK. Das sind dann die, die an den Wochenenden Großdemonstrationen veranstalten, sich mit der türkischen Rechten in die Haare kriegen, die das Bild der Integration stören und in manchen Studien gerne als laute Minderheit dargestellt werden.

Das Puzzle der kurdischen Community in Deutschland ist kompliziert und zu wenig erforscht. Das hat viel damit zu tun, dass die kurdische Bevölkerung keine eigene Lobby und kein eigenes Herkunftsland hat, das ihre Anliegen unterstützen könnte. Zudem haben sie Zuflucht in einem Land gefunden, das wie kein anderes genau jenen Staat unterstützt, in dem die meisten Kurdinnen leben und unterdrückt werden.

Keinen Status zu haben, zieht sich für die meisten von der Heimat bis in die Diaspora nahtlos durch. Gut gemeinte Forschung nichtkurdischer Autorinnen sollte etablierte ausländerbezogene Narrative rund um Integration, Desintegration, »deutsche« Werte, gute und schlechte Menschen und sonstige, an anderen Communitys orientierte Vorannahmen vermeiden. So schaffen wir es eventuell, bei der nächsten Protestwelle auf Grundlage solider und weniger euro- und turkozentrischer Forschung über Nuancen, politische Milieus und transnationale kurdische Diskurse reden zu können. Und vielleicht, aber nur vielleicht, wissen wir endlich bald, wieviele Kurd*innen wirklich in Deutschland leben.

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