Frankfurter Rundschau, Lucas Maier / Phillipe Perno
Im Nordosten Syriens bauen Frauen ein politisches System auf, das auf Gleichberechtigung setzt. Währenddessen bombardiert das Patriarch in Form von Erdoganstruppen das Gebiet.
Afrin – Rakka ist eine traumatisierte Stadt. Hinter den bunten Schaufenstern und den Menschen, die sich durch die Straßen drängen, zeugen aufgerissene Gebäude von den Schrecken des Krieges. Als inoffizielle Hauptstadt des „Islamischen Staates“, von 2013 bis 2017, lebten ihre Bewohner:innen dort unter dem Joch von Angst und Gewalt. Doch ihre Befreiung durch die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), eine von den USA unterstützte Koalition aus kurdischen, arabischen und christlichen Milizen, hat den gewalttätigen Islamismus nicht ganz ausgerottet.
Nun tobt ein unsichtbarer Krieg: der Krieg um die Mentalitäten. An dieser Front sind die Zenubiyas aktiv – Frauenräte, die sowohl Hilfe für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt als auch Aufklärung über Frauenrechte bieten.
Widerstand in Kurdistan: Der Daesh (IS) wird auch auf der Ebene der Ideologie bekämpft
„Wir bekämpfen den Islamischen Staat auf dem Gebiet der Ideologie. Nach fünf Jahren des Leidens kämpfen wir immer noch gegen die traditionelle Clan-Mentalität in unserer Gesellschaft“, sagt Nisreen Hassan, Mitglied der Generalversammlung des Zenubiya-Rates in Rakka, der nach der legendären Königin Zenobia von Palmyra benannt ist.
Sie erinnert sich an die Demütigungen der Frauen durch den Islamischen Staat: auf Märkten wie Vieh verkauft, als Geschenk an Prinzen des sogenannten Kalifats gegeben, auf öffentlichen Plätzen und später privat wegen des kleinsten Fehltritts verprügelt, die Schließung von Frauenschulen und -universitäten, Vergewaltigungen, das Verbot, ohne männliche Begleitung auszugehen… „Wenn ich Ihnen alles erzählen müsste, würde ich drei Tage brauchen“, seufzt sie und schlürft einen Kaffee mit Kardamom.
Befreiung von Rakka: Fraueneinheiten der YPJ haben großen Anteil am Sieg
Im Sommer 2017 leisteten die Frauenbataillone der kurdischen YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) unter der Führung von Kommandantinnen wie Rojda Felat einen großen Beitrag zur Befreiung der Stadt. „Die Frauen haben sich selbst befreit, sie haben gemeinsam gegen den Islamischen Staat gekämpft. Das war eine echte Revolution, die den Weg für eine egalitäre Gesellschaft geebnet hat“, erinnert sich Nisreen Hassan.
Die Zenubiya-Frauenräte wurden im vergangenen Jahr nach dem Modell gegründet, das im übrigen Nordostsyrien gilt: das einer dezentralisierten Selbstverwaltung nach dem Prinzip der direkten Demokratie und der Geschlechtergleichheit. Von den „Kommunen“ (Nachbarschaftsräten) bis hin zu den höchsten Instanzen gibt es geschlechtsneutrale Frauenräte, und der Vorsitz jeder Organisation wird zwischen einer Frau und einem Mann aufgeteilt.
Kurdistan als Vorbild: Rojava wurde weltweit bekannt
Rojava ist weltweit für seine egalitäre Regierungsführung von Männern und Frauen bekannt. Der Name setzt sich aus den kurdischen Wörtern „Roj“ und „ava“ zusammen. Wobei „Roj“ Sonne oder Tag bedeuten kann und „ava“ für das Ende oder den Untergang steht. Die Region befindet sich im Westen von Kurdistan. Im Vergleich, der Ostenvon Kurdistan wird „Rojhilat“ genannt, was so viel bedeutet wie „Sonnenaufgang“ oder „Tagesbeginn“. Die Frauenbataillone der YPJ verkörpern die Revolution der Frauen an den Frontlinien.
Im Hinterland sorgen die Mala Jin (Frauenhäuser, in Kurmanji) für Gerechtigkeit, Zuflucht und Bildung. In Qamishlo, 200 Kilometer von Rakka entfernt, wurde 2011 das erste Mala Jin eröffnet. „In den ersten Tagen der Revolution gegen das syrische Regime spürten wir, dass wir unser Leben selbst in die Hand nehmen konnten. Die Streitkräfte von Baschar al-Assad griffen uns an, aber wir verbarrikadierten uns in diesem Haus und hielten mit der Kraft unseres Willens stand“, erinnert sich Bahia Mourad, bekannt als Cia Rodi („Mutter von Rodi“ in Kurmanji) und Leiterin aller Frauenhäuser in der Stadt.
Krieg in Syrien: Kurdische Frauen bekämpfen das Patriachat an seiner Wurzel
Dort werden die Reporter in einem Wohnzimmer empfangen, das mit Pflanzen und Porträts von „Sehids“ (Märtyrern) der Bewegung geschmückt ist. In diesem Warteraum treffen wir Watin und ihren Mann Abdelnour (Namen geändert). Er sagt, er sei hier, um sich über seine Frau zu beschweren, die „alles kontrollieren“ wolle und „nie zufrieden“ sei, „auch wenn ich ihre Hände mit Gold fülle“.
Er beklagt, dass sein Status als Mann seit der kurdischen Revolution „auf Null gesunken“ sei, und dass „die Frauen jetzt denken, sie könnten alles tun, was sie wollen“. Watin entgegnet, dass er sie schlage, ihr verbiete zu arbeiten, über ihr Geld bestimmen und ihren Töchtern das Studium verbieten wolle. „Er beruft sich auf den Koran, aber ich habe ihn ganz gelesen und nichts dergleichen darin gesehen“, sagt sie. „Wenn er in den Himmel kommt, gehe ich lieber in die Hölle, als ewig mit ihm zusammen zu sein“, ruft sie mit einem Hauch schwarzen Humors.
Frauenrevolution in Kurdistan: „Wir wollen, dass keiner über den anderen bestimmt.“
Dies ist ihr vierter Besuch bei der Mala Jin, und der Fortschritt ist wohl mühsam: Er habe zwar aufgehört, sie zu schlagen und über sie zu bestimmen, aber er habe seine Mentalität noch nicht abgelegt. „Es ist ein langwieriger Prozess und die Männer stellen sich als Opfer dar, um ihre Privilegien nicht zu verlieren“, seufzt Bahia Mourad. „Sie denken, dass wir die Männer beherrschen wollen, aber das stimmt nicht, wir wollen, dass keiner über den anderen bestimmt“, fügt sie hinzu.
Die 72 Mala Jin, die über den Nordosten Syriens verteilt sind, dienen in der Nachbarschaft als erste Anlaufstelle bei Konflikten zwischen Eheleuten oder innerhalb von Familien. Im Jahr 2021 wurden in Qamishlo 1765 Fälle bearbeitet, darunter 860 Ehestreitigkeiten, 64 Fälle von häuslicher Gewalt und 116 Fälle von Zwangsehen von Minderjährigen.
Kurse gegen „toxische Männlichkeit“: Jineolojî revolutioniert Nordostsyrien
Die schwerwiegendsten Fälle können an Gerichte und die Polizei verwiesen werden, die in der Gleichstellung von Mann und Frau geschult sind. Alle Institutionen der Selbstverwaltung müssen Kurse in Jineolojî („Frauen- und Lebenswissenschaften“ in Kurmanji) belegen. Das ist eine Wissenschaft, die 2008 aus den Schriften von Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Vordenker der kurdischen Bewegung, hervorgegangen ist und sich in Rojava schnell entwickelt.
„Unser Ziel ist es, die Rolle der Frauen in der Geschichte zu erforschen und eine Gesellschaft zu gründen, in der Männer und Frauen gleichberechtigt zusammenleben können“, erklärt Zilan. Sie ist Mitglied der Jineolojî-Akademie und des Andrea-Wolf-Instituts in Qamishlo, einem Ort, an dem sich Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt treffen, um ihre Erfahrungen mit ihren kurdischen Kolleginnen auszutauschen.
Demokratischer Konföderalismus als Vorbild: PKK und PYD Hand in Hand
Diese Idee ist tief in der kurdischen Befreiungsbewegung verwurzelt, angeführt von der PKK in der Türkei und der PYD in Syrien, die die Ideologie des demokratischen Konföderalismus von Abdullah Öcalan übernommen haben.
„Bereits in den 80er Jahren haben die kurdischen Guerillas autonome Strukturen für Frauen aufgebaut, mit der Idee, dass eine Gesellschaft nur dann frei sein kann, wenn die Frauen in ihr frei sind“, erklärt Zilan.
Fortschritt in Rojava: Seit 2014 gibt es extra Frauengesetz
Ihr größtes Experimentierfeld für ihre Ideen fanden sie in Rojava, im Zuge der kurdischen Revolution gegen das Regime von Baschar al-Assad und der Gründung der autonomen Verwaltung im Jahr 2014. Seitdem hat sich die Jineolojî dort an der Jineolojî-Fakultät der Universität von Rojava, in Radio- und Fernsehsendungen sowie in zahlreichen Büchern, Broschüren und sozialen Medien weiterentwickelt, die diese neue Wissenschaft verbreiten. Im Zuge dessen wurde 2014 ein „Frauengesetz“ verabschiedet, das Zwangsheirat, Polygamie und Vergewaltigung im gesamten Gebiet des syrischen Nordostens verbietet.
„Den dominanten Mann töten“ ist eines der Schlüsselkonzepte, die von den Forscherinnen entwickelt wurden. „Es geht natürlich nicht darum, Männer zu töten, sondern die patriarchalischen Denkweisen in ihnen zu ändern“, lacht Zilan. Mit Workshops zur Selbstkritik, Geschichtsunterricht und Aufklärung über Frauenrechte werden Männer dazu ermutigt, Frauen als gleichwertige Partnerinnen zu betrachten, nicht mehr und nicht weniger. „Aber leider sind wir noch weit davon entfernt, zumal der Krieg zu gewalttätigem Verhalten und schwierigen Situationen für Frauen führt“, seufzt sie.
Angriffe auf Autonomie: Türkei tötet mindestens zehn Menschen in Rojava
Die Türkei bombardiert Rojava täglich, wobei seit Anfang August mindestens zehn Menschen getötet wurden, und besetzt zwei mehrheitlich von Kurd:innen bewohnte Städte, Afrin und Sere Kanye (Ras el Ayn auf Arabisch). Ankara führt seit Jahrzehnten Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung und beschuldigt die autonome Verwaltung von Rojava der Nähe zum Erzfeind der Türkei: der PKK.
Eine groß angelegte Invasion wird befürchtet, denn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht, eine „Sicherheitszone“ zwischen der Türkei und Syrien zu errichten, in der Tausende syrische Flüchtlinge angesiedelt werden sollen.
Nisreen Hassan vom Zenubiya-Rat in Rakka wütet: „Der türkische Präsident verkörpert das Patriarchat und versucht, uns unserer Rechte zu berauben. Man muss sich nur das Leid der Frauen in den Gebieten ansehen, die von der Türkei und ihren islamistischen Milizen, der Syrischen Nationalen Armee, besetzt werden.“ Sie befürchtet „große Rückschritte“ für Frauen, sollte die Türkei größere Teile von Rojava besetzen. (Philippe Pernot)
Hier geht es zum Artikel vom 19.09.2022: Revolution in Rojava: Der demokratische Stachel der Kurden gegen Erdogans Bomber (fr.de)